Abstract: Wir befinden uns in einer fundamentalen Transformation von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft, die vor allem durch die Möglichkeit der technischen Vernetzung vorangetrieben wird. Viele aktuelle Konflikte drehen sich rund um diesen Phasenübergang und der damit verbundenen Nebenwirkungen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die steigende Komplexität, welche mit unserem bisher erfolgreichen Denkrahmen nicht mehr beherrschbar ist. Diese Beitragsserie beleuchtet einige zentrale Aspekte näher und stellt die damit verbundenen Zusammenhänge dar, ganz im Sinne einer systemischen Betrachtung: „Das Verständnis für die Systemkomponenten ergibt sich stets aus der Kenntnis des Ganzen, nicht umgekehrt.“
Bottom-line-up-front: Wenn wir mit der steigenden Komplexität zurechtkommen wollen, müssen wir unsere eigene Komplexität erhöhen und unseren Denkrahmen erweitern. Eine einseitige Komplexitätsreduktion wird scheitern.
Problemdarstellung: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Der Umgang mit Komplexität erfordert neue Perspektiven und Denkansätze.
So what?: Nur wer das Problem versteht, kann auch an den richtigen Lösungen arbeiten. Daher geht es vorrangig um eine Problembeschreibung und um das Bewusstmachen wichtiger Zusammenhänge, denn ein System ist mehr als die Summe der Einzelteile. In einer weiteren Artikelserie werden diese Zusammenhänge ganz konkret an aktuellen Problemen im europäischen Stromversorgungssystem sowie an überlebenswichtigen Abhängigkeiten von Versorgungsinfrastrukturen dargestellt.
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Komplexität – Der kognitive Bedarf
Immer mehr Menschen verwenden den Begriff „Komplexität“, ohne sich wirklich bewusst zu sein, was konkret gemeint ist. Der Begriff leitet sich vom lateinischen complexus ab, was so viel wie verflochten oder verwoben bedeutet. Damit wird rasch der Zusammenhang zur steigenden technischen Vernetzung klar. Mehr Vernetzung führt zu mehr Komplexität mit den damit verbundenen Nebenwirkungen.[1]
Es entstehen komplexe Systeme, wo Grenzen immer mehr verschwinden.
Es entstehen komplexe Systeme, wo Grenzen immer mehr verschwinden. Wechselseitige Abhängigkeiten (Interdependenzen) und Rückkoppelungen sorgen für eine steigende Dynamik. Es kommt zur spontanen Herausbildung von neuen Systemeigenschaften oder Strukturen (Emergenz), was Planbarkeit erheblich erschwert. Die Eigenschaften der Systemelemente lassen dabei keine Rückschlüsse auf die emergenten Eigenschaften des neuen Systems zu, so beispielsweise in der Nanotechnologie, wo neue Materialeigenschaften und völlig neue Möglichkeiten entstehen. Gleichzeitig wissen wir nur sehr wenig über mögliche negative Nebenwirkungen. Zukünftige Erkenntnisse, wie wir sie etwa beim vormaligen Wunderstoff Asbest erfahren mussten, könnten zu verheerenden Auswirkungen führen. Eine Reparatur wird dann kaum mehr möglich sein. Irreversibilität und Nichtlinearität führen dazu, dass unsere bisherigen Risikomanagementansätze versagen, oder wir die tatsächliche Tragweite nicht erfassen können, vor allem, wenn zusätzlich erst zeitverzögerte Wirkungen auftreten, wie etwa beim Klimawandel. In hoch vernetzten Systemen können kleine Ursachen verheerende Auswirkungen auslösen.[2] Beispielsweise verursacht in Afrika ein aus Amerika eingeschleppter und sich rasant ausbreitender Schädling massive Schäden an der Maisproduktion und trägt damit zu verheerenden Hungersnöten bei.
Exponentielle Veränderungen überfordern unser Denken und unseren Horizont, da wir dazu neigen, Entwicklungen linear fortzuschreiben. Das haben wir etwa gerade während der Coronakrise erlebt. Daher werden auch Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) oder Automatisierung vielerorts unterschätzt. Die bereits stattfindende Automatisierung vieler Alltagsbereiche wird unsere Arbeitswelt und damit auch unser bisheriges Sozialsystem vermutlich auf den Kopf stellen. Aber auch autonome und durch KI-gesteuerte Waffensystem sind keine Science-Fiction mehr, sondern, wie wir 2020 oft mit Verwunderung feststellen mussten, bereits Teil der modernen Kriegsführung.
Während man in Europa mit der Diskussion beginnt, ob der Einsatz solcher Systeme überhaupt ethisch ist, sterben anderenorts bereits Menschen daran. Dass sich andere Länder oder Organisationen von unseren moralischen Diskussionen beeindrucken lassen, darf bezweifelt werden. Das gilt leider auch für andere Bereiche. Entscheidend wäre vielmehr, welche Antworten wir darauf haben, um uns vor derartigen Systemen zu schützen, wobei das nicht nur Hard-, sondern auch Soft Power-Angriffe wie Cyber-Attacken oder Fake News betrifft. Vieles davon passt nicht in unseren bisherigen Denkrahmen. Daher gibt es auch nur sehr spärliche Auseinandersetzungen, meist nur durch einzelne Spezialisten.
KI-Anwendungen werden aber noch deutlich mehr Fragen aufwerfen. Diese funktionieren nicht nach unserer bisherigen Maschinen-, sondern nach der Komplexitätslogik: irreversibel, nicht linear und damit in der Entscheidungsfindung nicht mehr nachvollziehbar. Durchaus auch mit neuen, für die Menschheit dienlichen Lösungen, aber auch mit der Gefahr, von kaum absehbaren Nebenwirkungen (Emergenz).
Erste Anzeichen gibt es bereits in der Cyber-Domäne. Hier hat sich eine professionelle und hoch arbeitsteilige Schattenökonomie entwickelt, welche neue Möglichkeiten bestmöglich zur Gewinnmaximierung nutzt. Umso mehr sollten uns Einschätzungen beunruhigen, wonach in naher Zukunft mit Schadsoftware zu rechnen ist, die sich Künstlicher Intelligenz bedienen wird. Ganz abgesehen von den bereits in „fast Echtzeit“ möglichen Videomanipulationen (Deep-Fake), womit das Thema Fake News eine völlig neue Dimension bekommt. Hier tun sich wahrlich Horrorszenarien auf, während wir in vielen Sicherheitsbereichen noch nach alten Denkmustern, in „Denksilos“ organisiert sind und auch so handeln.[3]
Entscheidend ist auch, dass sich komplexe Systeme nicht wie Maschinen als geschlossenen Systeme zentral steuern lassen. Die erfolgreiche Steuerung sowie Regelung beruht vielmehr auf dezentralen Rückkopplungsprozessen und Regelkreisen. Menschliche Eingriffe ohne Berücksichtigung dieser Mechanismen scheitern, wenn auch häufig erst zeitverzögert. Zudem entstehen nicht intendierte Ergebnisse oder Nebenwirkungen, etwas, was jeder von uns im Alltag beobachten kann.[1]
Um mit Komplexität umgehen zu können, braucht es unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem und die Suche nach Zusammenhängen.
Unsere Bildungssystems fordert und fördert diese Fertigkeiten nicht. Wie auch, ist dieses doch noch in altbewährten Strukturen wie Fächern, Instituten und Zweigen organisiert, wo statt vernetztem Denken das Silodenken gefördert wird. Um mit Komplexität umgehen zu können, braucht es unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem und die Suche nach Zusammenhängen.[3] Beim bisher bewährten Analysieren geht es vor allem um die Auftrennung von Problemen in beherrschbare Einzelteile. Das funktioniert bei Maschinen. Wenn man diese auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, dann funktionieren alles wie zuvor – wenn man keinen Fehler begangen hat. Hier spricht man auch von komplizierten Problemen, die mit einem Handbuch beschreibbar und immer wieder replizierbar sind. Bei komplexen Systemen hingegen führt ein Aufteilen zu einer irreversiblen Funktionsänderung oder Zerstörung. Es gibt kein Zurück. Daher ist auch alles Lebendige in der Natur ein komplexes System. Lebewesen kann man nicht in Einzelteile zerlegen und dann wieder zusammensetzen. Das gilt auch immer mehr für technisch komplexe Systeme.[1]
Herbert Saurugg, MSc, ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV), Autor zahlreicher Fachpublikationen sowie gefragter Keynote-Speaker und Interviewpartner zu einem europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall. Saurugg war bis 2012 Berufsoffizier des Österreichischen Bundesheeres (Major), zuletzt im Bereich IKT-/Cyber-Sicherheit und betreibt einen umfangreichen Fachblog (www.saurugg.net). Bei den in diesem Artikel vertretenen Ansichten handelt es sich um die des Autors.
[1] Frederic Vester, Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht an den Club of Rome (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011).
[2] Donella H Meadows, Die Grenzen des Denkens: Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können (München: oekom verlag, 2010).
[3] Wolf Lotter, Zusammenhänge: Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (E-Book: Edition Körber, 2020).