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Perspektiven deutsch-französischer Zusammenarbeit aus historischer Sicht

Abstract: Anhand der historischen Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen werden Chancen, aber auch Probleme einer Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern dargestellt. Hier stehen weitgehende Übereinstimmung in den langfristigen Zielen und eine hohe emotionale Konvergenz den äußerst ausgeprägten strukturellen Differenzen beider Länder gegenüber.

Problemstellung: Was muss man bedenken, wenn man Deutschland und Frankreich zu einer engeren strategischen Zusammenarbeit führen möchte?

Was nun?: Die hier analysierte Problematik könnte sich bei zukünftigen Entscheidungen in dieser Richtung als hilfreich herausstellen. Man hat dann neben den aktuellen Entscheidungsgrundlagen noch eine „Checkliste“, die Probleme abfangen kann, die sich aus der gemeinsamen Vergangenheit ergeben.

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Ein historischer Problemkomplex

Man kann die deutsch-französische Geschichte als Problemkomplex verstehen, der sich zwischen seinen beiden Polen, der Existenz Deutschlands und Frankreich, aufspannt. Sie ist ein ständiges Miteinander und Gegeneinander. Die heutigen Nationen Deutschland und Frankreich entstanden im Jahre 840, als das Frankenreich in seine Strukturen zerfiel. Dadurch entwickelten sich Deutschland und Frankreich territorial. Es kam zu  einer dynamischen Wechselwirkung unterschiedlicher nationaler Strukturen, aus denen unterschiedliche Interessen folgen, die dann wieder auf die Strukturen rückwirken. Es gilt daher nicht nur die Hauptkonfliktlinien nachzuvollziehen, sondern auch die Umstände der Strukturentwicklungen darlegen. Deshalb müssen die historischen Erkenntnisse in sehr komprimierter Form wiedergegeben werden.

Die heutigen Nationen Deutschland und Frankreich entstanden im Jahre 840, als das Frankenreich in seine Strukturen zerfiel. Dadurch entwickelten sich Deutschland und Frankreich territorial.

Vorgeschichte

Mittelalter

Im Jahre 840 verstarb der fränkische Herrscher Ludwig der Fromme, der Sohn Karls des Großen. Nun musste das Frankenreich unter seinen Söhnen aufgeteilt werden. Heutzutage betrachtet man derlei als extremes Missverständnis von Staatlichkeit.[2] In der Tat war der Begriff der Staatlichkeit damals nicht ausgeprägt. Das Reich galt als eine Art Privatbesitz des Kaisers und musste vererbt werden.[3]

843 folgte nach dem Vertrag von Verdun die Reichsaufteilung auf seine drei Söhne. Diesem Vertrag ging ein Krieg zwischen den Söhnen voraus, Lothar gegen Ludwig und Karl. Beim Betrachten der Karte erkennt man, dass das Gebiet Lotharingen zwischen dem östlichen und dem westlichen Reichsteil eingefasst ist, was deutliche politische und strategische Nachteile hatte. In der Tat war es im Jahre 880 verschwunden.[4] Spätestens dann lagen die Grundstrukturen Deutschlands und Frankreichs vor. Lotharingen war ein beeindruckendes Konglomerat zukünftiger Konfliktzonen, nämlich

  • der Niederlande als Schauplatz des 80-jährigen Krieges;
  • als Schauplatz des flämisch-wallonischen Konflikts, also dem heutigen Belgien;
  • dem Elsass, das mehrfach zwischen Frankreich und Deutschland hin- und herging;
  • Norditaliens, dem Aufmarschgebiet im Dreißigjährigen Krieg wie auch in den napoleonischen Kriegen; sowie
  • Korsikas, Schauplatz einer nicht immer friedlichen Unabhängigkeitsbewegung.

Des Weiteren zeigt sich, dass der östliche Teil vom Mittelmeer getrennt ist, was sich auch konfliktär ausgewirkt hat.

Zu behaupten, dass damals schon alle Konflikte angelegt wurden, wäre trotzdem überzeichnet. Es hatte sich jedoch eine Gebietsstruktur manifestiert, die nicht so schnell zur Ruhe kommen sollte.

Reichsteilung nach dem Vertrag von Verdun im Jahre 843. Quelle: Wikipedia.

Im Jahre 962 nahm Otto I. den Titel des römisch-deutschen Kaisers an, 987 nannte sich der  westfränkische König Hugo Carpet König von Frankreich. Die Teilung des Frankenreichs in Deutschland und Frankreich war damit abgeschlossen. Mitteleuropa nahm langsam seine heutige Form an.

Im Laufe der Jahrhunderte verfestigten sich auch die unterschiedlichen politischen Strukturen. Um das Jahr 1250 betrieb Ludwig IX. die Zentralisierung Frankreichs. Dies betraf Justiz, Steuerwesen und die interne Überwachung der Beamten. Hier entstand der Kern des französischen Zentralismus.[5] Deutschland folgte dabei 100 Jahre später. Im Jahre 1356 ließ Karl IV. in der Goldenen Bulle die Königswahl neu regeln. Die Rechte der Kurfürsten wurden dramatisch gestärkt. Die Goldene Bulle ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich Deutschland nicht zu einem Zentralstaat entwickelt hat.[6]

Im Laufe des Mittelalters entwickelten sich keine neuen Hauptkonfliktlinien. Tatsächlich erscheinen uns die deutsch-französischen Beziehungen in der Rückschau eher positiv. Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel über die Kreuzzüge, manifestierten sich in der Regel nicht in militärischen Auseinandersetzungen. Im Gegenteil, es kam bei den Kreuzzügen sogar zu militärischer Zusammenarbeit. Im Zweiten Kreuzzug 1147 marschierten Konrad III., Deutscher Kaiser, und Ludwig VII. von Frankreich gemeinsam.[7] In den Dritten Kreuzzug 1190 zogen Friedrich Barbarossa und Philipp II. von Frankreich zusammen.[8] Trotzdem waren beide Kreuzzüge ein komplettes militärisches Fiasko, aus dem Friedrich Barbarossa nicht lebend zurückgekehrte.

Tatsächlich erscheinen uns die deutsch-französischen Beziehungen in der Rückschau eher positiv. Meinungsverschiedenheiten, zum Beispiel über die Kreuzzüge, manifestierten sich in der Regel nicht in militärischen Auseinandersetzungen.

Aber die deutsch-französischen Beziehungen wurden immer besser. Im Jahr 1378 erfanden der Deutsche Kaiser Karl IV. und der französische König Karl V. den Staatsbesuch.[9] Dass bedeutende Herrscher einander besucht hätten, hatte es in der Tat noch nicht gegeben. Bisher traf man sich auf einem Kreuzzug oder auf einer Pilgerreise, aber ein Staatsbesuch hätte dem königlich-kaiserlichen Selbstverständnis widersprochen. Der Besucher musste ja die Herrschaft des Besuchten anerkennen. Dieser konnte aber keine Unterwerfung verlangen. Die Lösung gelang durch das Protokoll, eine geplante Abfolge von Handlungen und Symbolisierungen zur Erreichung der genannten Ziele. Andere europäische Herrscher nahmen die Idee durchaus positiv auf und unternahmen bald auch Staatsbesuche.[10]

Weiterentwicklung des Protokolls deutsch-französischer Gipfeltreffen. Links sitzt der Neffe Karls IV., er hat keinen königlichen Titel, also auch keine blaue Tapete über sich. Ein Platz weiter rechts sitzt Karl IV. Zweiter von rechts: der Gastgeber, Karl V. Rechts: Wenzel, der Sohn von Karl IV, bereits rex Romanorum. Im kleineren Bild: Die gezeigte symbolische Handlung soll auf die guten deutsch-französischen Beziehungen aufmerksam machen. Quellen: Wikipedia und Spiegel-Online.

Frühe Neuzeit

Die Frühe Neuzeit war geprägt vom habsburgisch-französischen Gegensatz. Dieser begann im Jahre 1516, als Karl V. neben seiner Kaisertätigkeit in Deutschland auch König von Spanien wurde. Damit war Frankreich geographisch von den Habsburgern umschlossen. Der habsburgisch-französische Gegensatz ist gekennzeichnet durch eine explosive Mischung aus hegemonialen und religiösen Konflikten, die zwischenzeitlich zu paradoxen Situationen führte. Mit dem Abklingen dieses Gegensatzes sollte sich ein neuer entwickeln: der preußisch-französische Gegensatz.

Frankreich kämpfte als katholisches Land im Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) auf der Seite der Protestanten gegen den habsburgischen und katholischen Kaiser.[11] Trotzdem war es nicht so, dass in Frankreich Religion nicht ernst genommen wurde. Frankreich war durchaus in der Vergangenheit gegen religiöse Abweichler mit Gewalt vorgegangen. Darum ging es Frankreich bei dem Dreißigjährigen Krieg jedoch nicht. Das Brechen der habsburgischen Herrschaft war das erklärte Kriegsziel. Die politisch-militärische Führungspersönlichkeit auf französischer Seite war sogar ein Repräsentant der katholischen Kirche, nämlich Kardinal Richelieu.

Der Krieg war für Frankreich sehr erfolgreich. Im Westfälischen Frieden erhielt Frankreich das Elsass[12] und die spanischen Habsburger wurden in der Schlacht von Rocroi vernichtend geschlagen.[13] Der endgültige Rückzug der Habsburger aus Spanien sollte jedoch erst um 1700 erfolgen.

Ab dem Jahre 1697 kam es zunächst zu einer preußisch-französischen Annäherungsphase. Es schien, als würden Preußen und Frankreich gar Verbündete werden.[14] Als jedoch der französische König, Ludwig XIV. den calvinistischen Hugenotten ihre religiösen Freiheiten nahm,[15] kam Preußen zur Hilfe und erlaubte den Hugenotten, nach Preußen zu kommen. Die Annäherung war damit beendet.

Als jedoch der französische König, Ludwig XIV. den calvinistischen Hugenotten ihre religiösen Freiheiten nahm, kam Preußen zur Hilfe.

Der habsburgisch-französische Gegensatz lief nun langsam aus. Aufgrund des spanischen Erbfolgekrieges fiel der Spanische Thron an ein Mitglied der französischen Königsfamilie.[16] Der Hauptgrund für den Konflikt war somit entfallen. Das endgültige Ende kam 1756 im Siebenjährigen Krieg.[17] Hier kämpften zwei größere Allianzen gegeneinander, Preußen war in der einen, Frankreich und Österreich in der anderen. Der preußisch-französische Gegensatz trat nun offen zu Tage. Dieser Wechsel der Allianzen wurde auch in der Heiratspolitik nachvollzogen. 1770 heiratete die Österreicherin Marie-Antoinette den späteren französischen König Ludwig XVI.

Französische Revolution und 19. Jahrhundert

Die Auswirkungen der Französischen Revolution waren weitreichend und multidimensional.[18] Da wäre zunächst die intellektuelle Dimension, die unter Anderem zur Formulierung der Menschen- und Bürgerrechte führte und international Vorbildcharakter entwickelte.[19] Dann war die militärische Dimension relevant, und schließlich auch die Interpretation aller Ereignisse. Die Revolution selbst wird oftmals als Explosion intellektueller Kreativkräfte gesehen, die die Menschheit weit vorangebracht hat, oder aber als eine Explosion von Gewalt und Terror, die Europa an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Beides ist nur bedingt richtig, und alle drei Dimensionen wirkten gleichermaßen strukturbildend. So neigt bis heute das französische Volk dazu, Unmut über Regierungsentscheide in gewalttätigen Demonstrationen zu äußern, die in Deutschland mit Sorge betrachtet werden. Auch in Deutschland kommt es bei Demonstrationen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Diese werden jedoch in der Regel durch politische Extremisten ausgelöst, zum Beispiel die G20-Ausschreitungen im Jahre 2017.[20] In Frankreich geht die Gewaltanwendung eher von den bürgerlichen Schichten aus.[21] Es besteht Grund zu der Annahme, dass es unterschiedliche Interpretationen der Französischen Revolution sind, die zu solchen Unterschieden zwischen Deutschland und Frankreich geführt haben.

Das revolutionäre Frankreich erklärte 1790 den Verzicht auf jeglichen Eroberungskrieg. Terminologisch ist Revolutionsexport jedoch kein Eroberungskrieg und so begann Frankreich 1792 mit einer Reihe militärischer Operationen, die es nach Kairo, Mailand, Mainz, Berlin und Moskau führen sollte. Der preußisch-französische Gegensatz war auf seinem Höhepunkt, woran wechselndes Kriegsglück auch nichts ändern konnte. In Mainz wurde eine eigene Republik gegründet und auch schon der Anschluss an Frankreich verkündet.[22] Hier begann Frankreich mit der Angliederung des Rheinlandes, ein für die Beteiligten schmerzhafter Prozess, der sich noch 140 Jahre hinziehen sollte.

Im Jahre 1804 krönte sich Napoleon Bonaparte zum Kaiser, was den militärischen Operationen keinen Abbruch tat. 1806 fiel Preußen. Napoleon nutzte Preußen als Basis für seinen Angriff auf das Zarenreich Russland, scheiterte aber. Preußen konnte sich durch die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 aus dem französischen Griff befreien. Schließlich kam es 1815 zur Schlacht bei Waterloo, bei der Napoleon vernichtend geschlagen wurde. Es folgte eine Zeit relativer Ruhe, jedenfalls was das Miteinander der beiden Länder angeht.

Napoleon nutzte Preußen als Basis für seinen Angriff auf das Zarenreich Russland, scheiterte aber.

Im Jahre 1870 wurde es dann wieder kritisch. Hier verdient der Problemkomplex der Emser Depesche eine nähere Betrachtung.[23] Frankreich war besorgt, da einem Mitglied der Hohenzollern der spanische Königsthron angeboten wurde. Es handelte sich um den Erbprinzen Leopold aus der Linie Hohenzollern-Sigmaringen. Der französische Botschafter Benedetti sprach, entgegen aller diplomatischer Gepflogenheiten, am 13.07.1870 den preußischen König Wilhelm I. auf der Kurpromenade in Ems auf das Problem an. Wilhelm konnte den Botschafter beruhigen und informierte Bismarck telegraphisch über den Vorfall. Dieses Telegramm war die eigentliche Emser Depesche. Bismarck änderte den Text jedoch, als hätte sich Wilhelm äußerst rücksichtslos und herablassend gegenüber dem Botschafter verhalten und veröffentlichte den geänderten Text. Die französische Presse war entsetzt und beeinflusste die öffentliche Meinung, sodass Frankreich am 19.07.1870 Preußen den Krieg erklärte, den Preußen schließlich gewann.

Am 18.01.1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen mit Wilhelm I. als Deutscher Kaiser. An diesem Tag geht der preußisch-französische Gegensatz in den deutsch-französischen Gegensatz über, da Preußen nunmehr Deutschland dominierte.

Die „Emser Audienz“; Quelle: Wikipedia.

Wichtig erscheint die Aufregung in Frankreich über die potenzielle Inthronisierung eines Hohenzollern in Spanien, die auch dann noch nicht abklingen wollte, als die Ablehnung der Hohenzollern bereits bekannt war. Frankreich fühlte sich an die Struktur des habsburgisch-französischen Gegensatzes erinnert, der eigentlich schon seit 100 Jahren erledigt war. Denn auch hier bestand das Problem, dass Frankreich sozusagen von Deutschland und Spanien eingekeilt war. Es besteht daher auch Grund zu der Annahme, dass es diese Furcht war, die dann den Ärger über den Bismarck-Text so gesteigert hat, dass es zum Krieg kam. Für eine deutsch-französische Zusammenarbeit muss also bedacht werden, dass die hier analysierten Hauptkonfliktlinien noch immer im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind.

Weltkriege

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichten die deutsch-französischen Beziehungen ihren Tiefpunkt. Schlachten mit Hunderttausenden von Toten, ein demütigendes Vertragswerk, furchtbarste Kriegsverbrechen an der französischen Zivilbevölkerung und schlimmste öffentliche Erniedrigungen waren, unter anderem, die Auswirkungen des Tiefpunktes.[24]

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichten die deutsch-französischen Beziehungen ihren Tiefpunkt.

Dass das deutsch-französische Verhältnis binnen kurzer Zeit wieder repariert werden konnte, grenzt an ein Wunder. Aber es ist durchaus  rationalen Erklärungen zugänglich, nämlich durch die völlige Auflösung sämtlicher Hauptkonfliktlinien, weitgehende Konvergenz in den langfristigen Zielen und weitsichtige Politiker mit hoher moralischer Integrität.

Die Nachkriegszeit

Der deutsch-französische Gegensatz endete mit der Niederlage der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg. Natürlich bleibt er im kollektiven Gedächtnis haften und wirkt dadurch nach. In der Nachkriegszeit ist das Dreiecksverhältnis Deutschland-Frankreich-Vereinigte Staaten von Amerika handlungsentscheidend. Die Rahmenhandlung war der Kalte Krieg. Dadurch entstand ein hochdynamisches Spannungsverhältnis zwischen inneren und äußeren Kräften. Das Ziel und auch die wesentliche Problematik beschreibt Zbigniew Brzeziński, der meinte, dass die deutsch-amerikanische Verbindung enger sei als die französisch-amerikanische, was sich als großes Hindernis für die europäische Emanzipation herausgestellt hat.[25] Diese europäische Emanzipation strebte Brzeziński durchaus an, und zwar im Interesse der USA.[26] Aber durch das Spannungsverhältnis kamen Deutschland und Frankreich in eine Situation des politisch andauernden Sich-Verfehlens, was strukturell erst mit der deutschen Wiedervereinigung beendet wurde.

Deutsch-französisch-amerikanisches Verhältnis

Bereits im Jahre 1945 erhielt Frankreich einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen.[27] 1948 schlossen Frankreich, Großbritannien und die BeNeLux-Staaten ein Verteidigungsbündnis. Auf Frankreichs Wunsch hin wurde Deutschland dabei explizit als potenzieller Gegner genannt.[28] Schließlich wurde am 04.04.1949 die NATO gegründet, und es wurden erste Diskrepanzen zwischen Frankreich und den USA augenscheinlich, da Frankreich die amerikanische Dominanz fürchtete.[29] Im Zuge dieser Diskrepanzen bewegte sich Frankreich langsam auf Deutschland zu. 1950 scheiterte der französische Entwurf einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit deutscher Beteiligung. Hier sollten die Deutschen unter französischer Führung dienen, da wirkliche militärische Gleichberechtigung in Frankreich zu der Zeit nicht durchsetzbar war.[30] Diese Chance europäischer Emanzipation war vertan. Im Jahre 1955 trat Deutschland in die NATO ein, der deutsch-französische Annäherungsprozess war damit vorläufig abgeschlossen.

1950 scheiterte der französische Entwurf einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit deutscher Beteiligung.

1960 stieg Frankreich zur Atommacht auf.[31] Die Regierungen von Deutschland und Frankreich, allen voran Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, wollten, zwölf Jahre nach dem Misserfolg der europäischen Verteidigungsgemeinschaft, nochmal einen Versuch starten. 1962 weilte Adenauer zum Staatsbesuch in Frankreich, und man beschloss weitere Zusammenarbeit. So wurde 1963 der Élysée-Vertrag geschlossen, in dem über militärische Zusammenarbeit gesprochen wurde. Aber auch diese Chance zur europäischen Emanzipation wurde vertan, da der Deutsche Bundestag dem Vertrag eine Präambel vorsetzte, die die guten Beziehungen Deutschlands zu den USA in den Vordergrund rückte und den Vertrag damit entwertete.[32]

1966 verließ Frankreich die militärischen Strukturen der NATO aufgrund von Streitigkeiten mit den USA über das Nuklearwaffenarsenal. Erst 2009 kehrte Frankreich wieder als Vollmitglied in die NATO zurück.[33] Hier bestand jahrzehntelang die Chance, auf den Élysée-Vertrag zurückzukommen, diese Chance wurde aber nicht genutzt.

Die deutsche Wiedervereinigung wurde von Frankreich nach anfänglichen Bedenken unterstützt.[34] So bestand Frankreich darauf, dass Deutschland die deutsche Ostgrenze anerkennen sollte, was dann auch geschah. Aber wieso verbot der westliche Kontrahent dem östlichen Kontrahenten die Ausbreitung nach Osten? Eine mögliche Erklärung ist, dass sich Frankreich an den preußisch-französischen Gegensatz erinnerten. Preußen bezog ja seine Stärke zum großen Teil aus seiner Verwurzelung in Osteuropa. Nachdem Deutschland die Ostgrenze anerkannt hatte, bestanden keine Bedenken mehr. Damit waren die deutsch-französischen Beziehungen besser als sie es im Jahre 1378, zu Zeiten der ersten Staatsbesuche, waren; ein langer Weg, der sich 600 Jahre hingezogen hat.

Wie ist das Verhalten Deutschlands in der Nachkriegszeit zu erklären? Warum wurde nicht der Schritt von europäischer Einigung zu europäischer Emanzipation vollzogen? Dies ist der speziellen Situation Deutschlands geschuldet. Es war geteilt und befand sich damit an der Frontlinie des Kalten Krieges. Es war auch nicht zum ersten Mal geteilt. Der Ablauf der hier benannten Hauptkonfliktlinien unterwirft Deutschland einer Geschichte des Geteilt-Seins und Geteilt-Werdens, ganz anders als der Geschichtsverlauf aus französischer Sicht. Es ist also kein Wunder, dass Deutschland diesem Phänomen mehr Gewicht zumaß und immer noch zumisst und dass die europäische Emanzipation hier einfach zurücktreten musste.

Zu Beginn bestanden auch keine divergierenden Interessen zwischen Deutschland und den USA, also kein Grund, aufgrund irgendwelcher abstrakter Emanzipation irgendwas zu riskieren. Dass Frankreich die deutsche Wiedervereinigung unterstützt hat, war also wichtig. Das vereinigte Deutschland hätte sonst kaum einen Grund, sich Frankreich zuzuwenden.

Aktuelle Lage

Staatliche Strukturen

Deutschland ist ein föderaler Staat, Frankreich eher zentralistisch. Im Jahre 1982 unternahm Frankreich jedoch einen politischen Schritt, der es ein Stück in Richtung Föderalismus führen sollte. Per Gesetz wurden die Regionen zu echten Gebietskörperschaften erhoben.[35] Das wurde von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen. Die Regionen sind jedoch keine vollständig demokratischen Strukturen wie die deutschen Bundesländer. So konnte 2015 die Anzahl der Regionen durch den französischen Gesetzgeber deutlich reduziert werden, ohne dass die Regionen zustimmen mussten. Aus deutscher Sicht kann Frankreich also immer noch als zentralistisch betrachtet werden.

Deutschland ist ein föderaler Staat, Frankreich eher zentralistisch. Im Jahre 1982 unternahm Frankreich jedoch einen politischen Schritt, der es ein Stück in Richtung Föderalismus führen sollte.

Regionen Frankreichs; Quelle: Wikipedia.

Staatliche Strukturen sind bei einer Zusammenarbeit natürlich angemessen zu berücksichtigen. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung (2023) findet sich jedoch das politische Ziel der Deutschen Regierung, dass sich Europa zu einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ entwickeln sollte.[36] Dies würde der französischen Staatsform widersprechen. Oder ist gemeint, dass die föderalen Elemente des europäischen Bundesstaates die alten Nationalstaaten sind und dass diese sich so organisieren können, wie sie möchten? Der Koalitionsvertrag geht da nicht ins Detail. Diese Ungenauigkeiten könnten sich als konfliktär herausstellen, wenn Frankreich dies als Ablehnung seiner Staatsform versteht.

Der Gegensatz Föderalismus versus Zentralismus spielte in den hier analysierten Hauptkonfliktlinien keine treibende Rolle. Natürlich stand immer ein einheitliches Frankreich einem zersplitterten und fragmentierten Deutschland gegenüber. Obwohl das den Ablauf der Ereignisse ganz entscheidend mitbestimmte, begründete es die Ereignisse jedoch nicht.

Islamismus

Frankreich hat große Probleme mit dem Islamismus.[37] Eine der Hauptursachen hierfür ist im Algerienkrieg zu suchen.[38] Algerien war aus französischer Perspektive französisches Staatsgebiet. Die indigenen Einwohner durften jedoch nicht wählen, waren also keine richtigen Staatsbürger. Im Jahre 1954 kam es zum Aufstand, worauf die Franzosen mit Massenerschießungen und Folterungen reagierten.[39] Der Algerienkrieg endet 1962 mit dem Frieden von Evian, Algerien wurde unabhängig. Der Algerienkrieg ist einer der Hauptgründe für den Hass, den einige Moslems dem französischen Staat entgegenbringen und der jederzeit Auswirkungen auf Deutschland haben kann.

Problematik der Nuklearen Teilhabe

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hatte 2022 in der Zeitschrift Foreign Affairs die Politik der Nuklearen Teilhabe mit den USA bestätigt. Dass die USA hier der wesentliche Partner sind, geht aus dem Artikel nicht direkt hervor. Dies wird aber im Kontext deutlich, unter Anderem dadurch, dass Scholz die Nukleare Teilhabe direkt mit der Beschaffung der von den USA produzierten F-35 in Verbindung brachte.[40]

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hatte 2022 in der Zeitschrift Foreign Affairs die Politik der Nuklearen Teilhabe mit den USA bestätigt.

Dies ist ein in Deutschland kontrovers diskutiertes Thema. Mangel an Sachkenntnis wirkt hier ebenso kommunikationsstörend wie ideologisch motivierte Grundeinstellungen.[41] Die Nukleare Teilhabe wird aber auch im Koalitionsvertrag bestätigt.[42] Ob die deutschen Interessen nach der Erreichung der Nuklearen Teilhabe saturiert sind, oder ob dann die Inbetriebnahme eigener Nuklearwaffen angestrebt wird, muss sich erst noch zeigen.[43] Dies würde jedenfalls zu den deutschen Bestrebungen passen, einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat zu erlangen.[44]

Fazit

Aus den analysierten Gegebenheiten entlang der Hauptkonfliktlinien ergeben sich die folgenden Einzelpunkte, die bei einer eventuellen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich berücksichtigt werden sollten.

Zu beachtende Punkte innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen; Quelle: Autor.

Diese Hauptkonfliktlinien begründen eine innere und eine äußere Komplexität für eine strategische deutsch-französische Zusammenarbeit. Hinzu kommt aber die Frage, ob Deutschland und Frankreich das überhaupt allein entscheiden können. Schließlich ist das Dreieck Deutschland-Frankreich-Amerika aktuell strukturbildend. Eine europäische Emanzipation gegen die USA durchzusetzen, ist in niemandes Interesse.

Eine europäische Emanzipation gegen die USA durchzusetzen, ist in niemandes Interesse.

Eine Einbettung eines emanzipierten Europas in eine internationale Sicherheitsarchitektur zum Nutzen aller hingegen schon. Eine europäische Emanzipation darf jedoch von den USA nicht als Affront verstanden werden. Das begründet die äußere Komplexität dieser Fragestellung.


Harden Ortner; 1983-1989: Studium der Elektrotechnik an der Technischen Universität Berlin; 1989- 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin im Bereich der Rechnertechnologie; Seit 1995: Berufliche Tätigkeit im Bankwesen in den Bereichen: Informationstechnologie, Innenrevision, Risikocontrolling; Seit 2004: Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Politik, Wirtschaft und Geschichte. Bei den in diesem Artikel vertretenen Ansichten handelt es sich um die des Autors.


[1] Charles de Gaulle an seinen Botschafter in Bonn, François Seydoux in Peter Schunck, Geschichte Frankreichs – Von Heinrich IV. bis zur Gegenwart, (ibidem-Verlag, 2004), 382.

[2] Die antiken Schriften, die einen wesentlich ausgeprägteren Begriff von Staatlichkeit vermitteln, waren im Frankenreich durchaus bekannt und Karl der Große wollte Reichsteilungen durch Erbfälle auch verhindern. Aber da Ludwig sein einziger überlebender Sohn war, geriet dies in Vergessenheit.

[3] Johannes Fried, Das Mittelalter, (Verlag C.H. Beck, 2008), 60. „Das (Frankenreich) war kein Staat. Es trat den Zeitgenossen nicht als Subjekt . . . entgegen, . . . war kein eigenständiger Rechtsträger.“

[4] Ibid., 102-104.

[5] Ibid., 327-335.

[6] Ibid., 448-455.

[7] Steven Runciman, A History of The Crusades – II: The Kingdom of Jerusalem, (Penguin Classic, 2016 (1952)), 212- 225.

[8] Ibid.,14-15.

[9] Johannes Fried, Das Mittelalter, (Verlag C.H. Beck, 2008), 455-459.

[10] Ibid., 459.

[11] Herfried Münkler, Der Dreissigjährige Krieg, (Rowohlt-Verlag Berlin, 2021).

[12] Ibid., 812.

[13] Ibid., 741-743.

[14] Peter Schunck, Geschichte Frankreichs, 62.

[15] Ibid., 63-64.

[16] Ibid., 65-68.

[17] Ibid., 78-81.

[18] Zum Beispiel: Hans-Ulrich Thamer: Die Französische Revolution, (Verlag C. H. Beck, 2009).

[19] Ilya Zarrouk, 175 Jahre Deutsche und europäische Revolution. Eine vergleichende Analyse der europäischen Revolutionen zu den arabischen des 20. und 21. Jahrhunderts, (The Defence Horizon Journal, 2023), abgerufen November 26, 2023, https://www.thedefencehorizon.org/post/analyse-revolutionen-europa-arabien?lang=de.

[20] Spiegel online, Mehrere Männer wegen G20-Ausschreitungen verurteilt, abgerufen Dezember 02, 2023, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/g20-in-hamburg-elbchaussee-randale-fuenf-maenner-verurteilt-a-950b019a-93c8-4ff5-ba50-b2f5d2e5300f.

[21] Neutrale wissenschaftliche Auswertungen sind leider Mangelware, unbeschadet des hohen Erkenntnisinteresses.

[22] Peter Schunck, Geschichte Frankreichs, 117-118.

[23] Ibid., 202-205.

[24] Jörg Requate, Frankreich seit 1945, (Vandenhoeck & Ruprecht, 2011), 23-25.

[25] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, (Kopp-Verlag, 2017 (1997)), 59. Es ist die deutsche Übersetzung von The Grand Chessboard.

[26] Ibid., 77-81.

[27] Ibid., 62.

[28] Ibid., 64.

[29] Ibid., 65.

[30] Ibid., 70-73.

[31] Ibid., 66.

[32] Peter Schunck, Geschichte Frankreichs, 403-405.

[33] Ibid., 67-68.

[34] Ibid., 453-456.

[35] Ibid., 440.

[36] Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), 2021, Herausgeber, Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Bündnis90/Die Grünen, Freie Demokratische Partei (FDP), abgerufen November 26, 2023, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.

[37] Spiegel Online, Deutscher Tourist in Paris bei Messeattacke getötet, abgerufen November 26, 2023, https://www.spiegel.de/ausland/paris-ein-toter-und-ein-verletzter-bei-messerattacke-a-2b4f312f-dc29-4216-9b97-e8e6fef34fa4.

[38] Jörg Requate, Frankreich seit 1945, 78-88.

[39] Roger Trinquier, Modern Warfare (Praeger Security International).

[40] Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende, (Foreign Affairs, 2022), abgerufen November 26, 2023, https://www.foreignaffairs.com/germany/die-globale-zeitenwende.

[41] Severin Pleyer, Der vergessene Anteil der Nuklearen Teilhabe, (The Defence Horizon Journal, 2022), abgerufen November 26, 2023, https://www.thedefencehorizon.org/post/der-vergessene-anteil-der-nuklearen-teilhabe-1.

[42] Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP).

[43] Donald Abenheim, Carolyn Halladay, Das Tabu, das Undenkbare und das Phantom: Deutschland, Nuklearwaffen, NATO-Resilienz, (ÖMZ 2/2022, 2022), 147.

[44] Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am 30. Januar 2023 in Brasilia, (Bundesregierung, 2023), abgerufen November 26, 2023, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressekonferenz-von-bundeskanzler-scholz-und-dem-brasilianischen-praesidenten-luiz-in%C3%A1cio-lula-da-silva-am-30-januar-2023-in-brasilia-2161570.

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