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Russland in der MENA-Region: Neu gemischte Karten auf einem alten Spielbrett

Abstract: Der folgende Artikel legt die innenpolitischen Hintergründe der russischen Intervention in Syrien dar, vor allem die Eindämmung des radikalen Islams und eine Verhinderung eines Spill-over-Effekts. Außerdem werden die global-politischen Hintergründe offengelegt, die eine Intervention in Syrien nach der Krim-Krise begünstigten, da Russland ohnehin isoliert war und sich die USA aus dieser Region zurück zogen. Des Weiteren werden die ökonomischen Überlegungen Moskaus beleuchtet. Am Ende folgt ein Ausblick auf das mögliche weitere Vorgehen Russlands.

Problemstellung: Wie nimmt Russland sicherheitspolitische Entwicklungen wahr und welche Ableitungen können aus diesem Verständnis gewonnen werden? 

Was nun?: Russland und die Volksrepublik China verschieben Gewichtungen in der Weltordnung. Wenn Europa sich nicht geschlossen auf eine konsequente Politik einigt, wird man in die Bedeutungslosigkeit absinken. Einzelne „starke“ Staaten, wie Frankreich oder Großbritannien sowie Deutschland werden ihre eigene Agenda verfolgen. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit der EU sinken. Des Weiteren muss sich Europa mehr in den diplomatischen Verhandlungen zur Lösung des Konflikts in Syrien engagieren. Die Zukunft der MENA-Region betrifft Europa und die Mechanismen, die zu der Lösung des Konflikts führen werden, werden das 21. Jahrhundert prägen.

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Einleitung

Das russische Engagement in den Ländern der MENA-Region (Middle East and North Africa) verwundert oft in Europa. Doch diese Verwunderung ist möglicherweise nur Ausdruck eines Unverständnisses für die Russische Föderation und Verharrens in einem Denken, das Russlands Handeln als eine Reaktion auf westliche Politiken deutet und es immer noch nach Maßstäben des Kalten Krieges beurteilt. Dieser Artikel gibt einen zusammenfassenden Einblick in die russische Sicherheitsinteressen in der Region des Nahen Ostens. Es wird dabei sowohl der inner-russischen Perspektive als auch dem russischen Verständnis der globalen Politik Rechnung getragen.

Nach einer kurzen historischen Einführung werden die Hintergründe des verstärkten Engagements Russlands skizziert und die wichtigsten Gründe aus russischer Perspektive dargelegt. Dabei werden die innenpolitischen, global-politischen sowie ökonomischen Rahmenbedingungen veranschaulicht. Auch die Sichtweisen der regionalen Akteure und ihr Einfluss auf das mögliche größere Vorhaben Russlands werden thematisiert. Da der Syrienkrieg als regional schwerwiegendster Konflikt gilt und Russland in keinem anderen Land der Region ein dermaßen aktives Engagement an den Tag legt, fokussiert dieser Artikel auf Syrien.

In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion wird die russische Sicherheitspolitik (RSP) entweder als Teil einer russischen Grand Strategy, oder auf dem gegenüberliegenden Pol, als reiner Opportunismus, verortet. Die hier vertretene These verortet die RSP zwischen diesen beiden Polen und bringt damit eine neue Perspektive in diesen Diskurs ein.

Historischer Rahmen

Russland und seine historischen Vorläufer (das Zarenreich und die Sowjetunion) entwickelten verhältnismäßig spät ein Interesse für diese geopolitisch wichtige Region. Zwar unterstützte beispielsweise das Zarenreich bereits 1776 einen arabischen Aufstand gegen das Osmanische Reich, aber ein verstärktes Eingreifen in diese Region erfolgte erst im 20. Jahrhundert.  Lange lag der Fokus Russlands auf jenen Gebieten, die unmittelbar in seiner Nachbarschaft lagen: auf dem Kaukasus, Zentralasien und der Türkei (beziehungsweise dem Osmanischen Reich).

Im Zuge der Oktoberrevolution und der vermeintlich anti-imperialistischen Botschaft der Sowjetunion entstanden in den 1920er und 30er Jahren überall in der arabischen Welt Kommunistische Parteien, die aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Anknüpfungspunkte für die sowjetische Außenpolitik bildeten. Die Entstehung der Baath-Bewegung und später das Erwachsen der politischen Parteien daraus waren auf ideologischer Ebene nah an der sowjetischen Ideologie des Antiimperialismus und Antikapitalismus angesiedelt. Diese Hinwendung stellte auch eine klare Absage an die ehemaligen Kolonialherren des Westens dar.

Einen besonderen Stellenwert hatte Syrien, das ab den 1970er Jahren Ägypten als wichtigsten Partner Russlands ablöste.[1] Massive Investitionen wurden nicht nur im militärischen, sondern auch im zivilen Bereich forciert: Studentenaustausch, Handel mit Konsumgütern, usw. stellten einen wichtigen Teil der syrisch-russischen Beziehungen dar. Anfang der 1990er Jahre hatten Syrien und Irak hohe Schulden bei der Sowjetunion beziehungsweise dessen Nachfolgestaat. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 brachen die Beziehungen zur MENA-Region und Syrien abrupt ab. Jelzin besuchte diese Region kein einziges Mal. Man war viel zu sehr mit dem „Scherbenhaufen“ zuhause und vor der eigenen Haustür beschäftigt.

Die erneute Wende zur MENA-Region kam aber nicht erst mit Putin, sondern bereits mit Primakov, der 1996 Außenminister in Russland wurde. Der studierte Orientalist hatte ein besonderes Interesse an dieser Region und reihte die Fragen der MENA-Region wieder ganz oben auf die außenpolitische Agenda ein.[2] Mit ihm kehrte auch wieder der Gedanke zurück Russland zu einer Großmacht zu machen. Er begünstigte ebenso die politische Stärkung der siloviki, wie in Russland die MitarbeiterInnen der Geheimdienste und des Militärs genannt werden. Diese sind die tonangebende Kraft in Russland und kontrollieren auch „zivile“ Bereiche. Vladimir Putin wurde stark von Primakov geprägt und entstammt – wie bekannt – ebenso dem KGB.

2008 schließlich erließ die Russische Föderation dem Irak und Syrien 75% der Schulden und erhielt im Gegenzug Möglichkeiten sich zu günstigen Bedingungen an Projekten in diesen Ländern zu beteiligen. Die russische Intervention in Syrien im September 2015 überraschte dennoch die meisten westlichen Staaten. Doch bei genauerem Hinsehen, ist es durchwegs keine Überraschung. Russland hatte immer Interessen in der MENA-Region, was stets auch eine Auseinandersetzung mit dem Westen barg. Die zweite Sprache, in welcher RT (ehemals Russia Today) ausgestrahlt wurde, war bereits im Jahr 2007 Arabisch.

Russlands Innenpolitik und seine Auswirkungen auf die Außenpolitik

Als 2011 der Arabische Frühling ausbrach, sah sich auch Russland mit den größten Protesten seit dem Zusammenbruch der UdSSR konfrontiert. Mit den hohen Ölpreisen der 2000er Jahre ermöglichte Putins Regierung einen für die Bevölkerung langersehnten Konsumismus, der zwar keine politischen Rechte vorsah, aber die Löhne und Lebensqualität steigen ließ. Als der Ölpreis sank und die Finanzmarktkrise 2008 auch Russland erreichte, folgten massive Proteste als Putin erneut vom Amt des Premierministers zum Amt des Präsidenten wechselte. Bei dieser Wahl hatten sich so viele freiwillige WahlhelferInnen wie nie zuvor gemeldet. Die massiven Fälschungen schockierten die Bevölkerung.  

Viele autoritäre Herrscher der arabischen Welt fanden 2011 ihr Ende. Die Zeit danach bedeutete meist Chaos und so fürchtete man auch in Russland eine erneute Instabilität, wie man sie bereits aus den 90er Jahren kannte. Auch Konflikte innerhalb der russischen Elite verschärften die Situation: Medvedev vertrat den liberalen Zweig der russischen Eliten und forderte eine Liberalisierung, v.a. der Wirtschaft (Öffnung für ausländisches Kapital und höhere private Anteile an den staatlichen Unternehmen wie Gazprom, Entmachtung der siloviki), aber auch der Politik und eine Wende nach Westen.[3]

Die russische Wahrnehmung des Arabischen Frühlings aber schwenkte das Meinungsbarometer nochmals um. Anders als erwartet, vernahm man das entstehende Chaos in der arabischen Welt als Warnung in der russischen Bevölkerung. Während man in Europa die Demokratisierung als nächsten „logischen“ Schritt feierte und erst später desillusioniert erwachte, sah der Kreml von Anfang an eine Quelle für Instabilität und ein Brutnest des radikalen Islam in diesen Bewegungen: Die junge arabische Generation werde sich weniger auf westliche Werte der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit besinnen, als eher zu einer radikalen Ausformung ihres eigenen Erbes zurückkehren.[4] Teilweise erwies sich diese Einschätzung als richtig, wie in Ägypten zu beobachten war.

Für Russland stellte dies eine unmittelbare Bedrohung der eigenen Sicherheitsinteressen dar: 15% der russischen Bevölkerung gehören dem Islam an und man fürchtete eine Radikalisierung der eigenen Bevölkerung, wie man es bereits im Nordkaukasus erlebt hatte. Dies stellte sich insofern als wahr heraus, als dass viele Kämpfer aus Tschetschenien und Zentralasien (dem „Hinterhof“ Russlands) nach Syrien und in den Irak gingen, um sich dem Kampf des IS (Islamischer Staat) anzuschließen. Schätzungen ergaben, dass beinahe 3000 russischsprachige Kämpfer sich dem sogenannten Jihad anschlossen. Die Angst vor den kampferprobten Heimkehrern beeinflusste maßgeblich die russischen Überlegungen zur MENA-Region und das Eingreifen in den Syrischen Konflikt, der längst kein Bürgerkrieg mehr war, sondern zu einem regionalen Stellvertreterkonflikt angeschwollen war.[5]

Das entschiedene Auftreten Putins gegen die Instabilität in dieser Region, die man in Russland den westlichen Interventionen zuschrieb, stärkte seine innenpolitische Position: Die russische Bevölkerung erhoffte sich nicht nur wieder als gleichwertiger Partner auf der internationalen Bühne wahrgenommen zu werden, sondern sehnte sich eher nach Stabilität als nach Umbrüchen. Ein verstärktes Auftreten auf der internationalen Bühne folgte im Anschluss an 2011 und vor allem nach der US-Intervention in Libyen, die nach russischer Ansicht das Land ins Chaos stürzte und die Region weiter destabilisierte. Generell ist es eine weit verbreitete Ansicht in Russland, dass der Westen mit seiner willkürlichen interventionistischen Politik, wie sie auch in Afghanistan, Irak und ab 2011 in Libyen betrieben wurde, eher zu einer Schaffung der Bedingungen des radikalen Islams führte, als diesen zu verhindern.[6]

Außerdem erschien es für Putin, als würde der Westen (und dabei vor allem die USA) die internationale Ordnung, die durch den UN-Sicherheitsrat geprägt wird, aushöhlen und die Responsibility to Protect-Doktrin dazu nutzen seine eigenen geopolitischen Interessen unter dem Deckmantel der Demokratisierung und der Menschenrechte durchzusetzen, ohne die Souveränität der einzelnen Staaten zu beachten.[7]

Souveränität ist das Stichwort des russischen außenpolitischen Verständnisses. Es ist eng verknüpft mit Moskaus Wunsch nach einer multipolaren Weltordnung. Dieses Konzept  ̶  unklar ob strategisch noch zu erreichendes Ziel oder bereits Realität  ̶  steht als Synonym für die Absage an eine US-Hegemonie, vor der Putin bereits 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz warnte.[8] Gleichzeitig ist es Russland und auch der Volksrepublik China besonders wichtig auf ausgewählte Richtlinien durch internationaler Organisationen zu achten. Beiden Akteuren ist es auch essentiell als legitime Player wahrgenommen zu werden und ihr außenpolitisches Prestige zu wahren. Keinesfalls wollen sie eine Rückkehr zum quasi-anarchistischen internationalen System, das vor 1914 in Europa herrschte. Dies betrachten sie sogar eher als Gefahr. Einige Analysten und Kommentatoren bezeichnen Russland als neo-revisionistische Macht: Damit ist eine von Russland als auch von China gewünschte Anpassung der gegebenen internationalen Ordnung gemeint, die nicht auf den Widersprüchen von Souveränität vs. Intervention oder Pluralismus vs. US-Hegemonie aufbaut.[9]

Am Vorabend zur russischen Intervention in Syrien war Russland seit der Ukraine-Krise 2014 international isoliert, zumindest von Westen her. Auch wenn Russland bereits davor eine Wende nach Osten vollzog, bildet Europa nach wie vor den wichtigsten Handelspartner. Auch politisch wollte man nicht außen vor gelassen werden, wusste man doch in Moskau, dass sich „der Westen“ die Nachkriegsordnung in Syrien sonst unter sich ausmachen würde. Bereits zu Anfang der beginnenden Proteste war es Russlands Ansicht, dass sich westliche Botschafter vorschnell auf die Seite der Protestierenden stellten und sie mit Waffen versorgten, ohne die Reformbereitschaft Assads anzuerkennen. Ausländische Medien hätten einen rücksichtslosen Medienkrieg gegen das Regime begonnen, unterstützt von katarischen Sender Al-Jazeera.[10]

Das verstärkte Engagement in Syrien ist vor diesem Hintergrund besser zu verstehen: Russland war ohnehin isoliert und somit offen für ein gewisses Risiko, da es nur noch wenig zu verlieren hatte. Überdies wusste man, dass ein geschicktes Eingreifen in Syrien Russland wieder auf die diplomatische Bühne zurückbringen würde. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass dies gelungen ist. Eine Lösung des Syrien-Konflikts führt an Russland nicht mehr vorbei!

Die Weichen standen günstig, denn bereits mit der Obama-Administration hatten sich die USA aus der MENA-Region zurückgezogen und ihren sicherheitspolitischen Akzent auf den fernen Osten gelegt. Die Trump-Administration hatte keine stringente MENA-Politik vorzuweisen, sondern reagierte eher auf die Geschehnisse, statt wie ehemals gewohnt als Ordnungsmacht einzugreifen. Russland ergriff seine Chance, auch weil einige Akteure der Region einen neuen Akteur willkommen hießen.[11]

Dem erklärten Säkularismus der westlichen Welt stehen die traditionellen und vom Islam geprägten Gesellschaften eher mit Misstrauen gegenüber. Auch der destabilisierenden Wirkung westlicher Interventionen unter dem Vorwand der Demokratisierung schenkt man längst keinen Glauben mehr. Ebenfalls war die Erinnerung an westlich dominierte Kolonialherrschaft Vielen noch lebhaft in Erinnerung. Gerade, dass Russland eben nicht die militärischen und finanziellen Kapazitäten der USA und anderer westlicher Staaten hatte, machte es zu einem willkommenen Partner, da es vorteilhafter schien in einem schwächeren Bündnis größere Mitsprache zu haben, als in einem starken Bündnis bloß der Trittbrettfahrer zu sein.[12] Außerdem schien es klar, dass Russland nicht die USA ersetzen wollten und als Ordnungsmacht auftreten werde, sondern eine Regionalisierung des Konflikts anstrebte, was auch im Astana-Prozess ersichtlich wurde. Während der Westen weder diplomatische Beziehungen zum Iran noch zu Syrien pflegt, bezieht Russland diese Akteure in seine Verhandlungen mit ein.

Nicht außer Acht zu lassen sind in diesem Kontext die ökonomischen Interessen Russlands. In den letzten Jahren erlebte die Wirtschaft Russlands eine „securitization“. Die russische Wirtschaft gelangte auf die Agenda der Sicherheitspolitik. Die russische Ökonomie ist maßgeblich von seinen Exporten im Energiesektor anhängig. 2019 bildeten die Rohstoffexporte knapp über 60% aller russischen Exporte.[13] Somit ist Russland stark von den schwankenden Weltmarktpreisen abhängig.

Der Nahe Osten stellt einen wichtigen Öl- und Gasproduzenten dar. Somit ist ein gewisser Einfluss in dieser Region beinahe überlebenswichtig für Russland. Wenn es Russland gelingt Syrien als seinen Partner zu stärken, wird es die Rohstoffverkäufe aus dieser Region nach Europa kontrollieren können.

Außerdem ist Russland der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt: Die MENA-Region eignet sich nicht nur als Abnehmer, sondern auch als realer „Showroom“ der russischen Technologie und militärischen Schlagkraft. Im Zuge des Schuldenerlasses von 2008 einigten sich Moskau und Damaskus nicht nur darauf der russischen Flotte die Renovierung und Nutzung der ehemals sowjetischen Marinebasis in Tartus zu gewähren, sondern es wurden auch zahlreiche Verträge zu Waffenlieferungen und dem Wissenstransfer im nuklearen Energiesektor geschlossen. Dies bindet Assad und sein Regime langfristig an den Kreml, da die Wartung dieser Technologien russischer Experten bedarf.[14]

Russlands Vorgehen in Syrien

Die russische Militäroffensive begann im September 2015, auch wenn Moskau bereits zuvor Assad und seine Streitkräfte mit Waffen und Technologien versorgt hatte. Die Offensive bestand hauptsächlich aus Luftangriffen. Das offizielle Ziel waren die Stellungen des IS. In Wirklichkeit überließ Russland aber oft die Bekämpfung der Terrormiliz den USA und seinen kurdischen Verbündeten und konzentrierte sich auf alle Feinde Assads. Militärisch ging es dabei um die Absicherung des Marinehafens Tartus und des Luftwaffenstützpunktes Hmeimim sowie die Testung neuer Technologien, die mit ihrer Schlagkraft neue Abnehmer finden sollten.

Russische Luftangriffe waren eindeutig ein game changer: Mit relativ geringen Mitteln schaffte es Russland dadurch, die Karten neu zu verteilen. 2015 kontrollierten die Truppen Assads nur noch 10% des Staatsgebiets. 2020 ist seine Macht wieder gefestigt, heute kontrollieren Assads Truppen wieder 80% des syrischen Territoriums.

Die russische Strategie war dabei von den Erfahrungen geprägt, die man im Tschetschenienkrieg gemacht hatte: Massive Bombardements ziviler Einrichtungen sollten den Widerstand brechen. Gleichzeitig erkannte Russland aber auch, dass dieser Konflikt nicht rein militärisch zu lösen ist. Vielmehr sollten die militärischen Erfolge größeres Gewicht am Verhandlungstisch bringen. Während der Westen und einige regionale Akteure Assad und sein System als Ursache allen Übels sahen, beharrte Russland darauf die staatlichen Strukturen und Institutionen nicht vollends abzutragen, sondern mit den Syrern gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten. Mittlerweile ist es für Moskau nicht mehr die oberste Priorität Assad im Amt zu behalten, aber eine Übergangsphase muss in den Augen Moskaus dennoch gewährleistet werden.

Russland initiierte die Friedensverhandlungen, weitläufig als Astana-Prozess bezeichnet: 2016 begann Moskau einige oppositionelle Kämpfer nicht mehr als Terroristen, sondern als legitime Akteure zu betrachten. Unter anderen verhandelte man mit dem militärischen Arm der syrischen Kurdenpartei  ̶  ganz zum Unmut Ankaras. Der Astana-Prozess verschob ebenso den Diskurs, der nun nicht mehr einen Regimewechsel als oberste Priorität vorsah.

2016 verlautbarte Moskau einen überraschenden Abzug aus Syrien, der aber realiter nicht stattfand. Die russische Militärbasis in Tartus, wohlgemerkt der einzige Zugang Russlands zum Mittelmeer, und auch der einzige Luftwaffenstützpunkt außerhalb des russischen Staatsgebietes, Hmeimim, blieben in vollem Betrieb.[15] Damit wollte Russland wahrscheinlich eher ein Zeichen an Assad senden, dass Moskau zu keinem zweiten Afghanistan bereit sei, aber auch den westlichen Partnern vermitteln, dass man auch konstruktiv nach Lösungen suchen wolle.

Gleichzeitig schien eine Stärkung des Regimes in Damaskus dessen Verhandlungsbereitschaft zu verringern. Dies brachte Moskau weitere Schwierigkeiten. Ab 2016 initiierte Moskau Gespräche mit dem Iran und der Türkei, um das Vorgehen in Syrien zu koordinieren und ein Gegenformat zu den Genfer Friedensverhandlungen zu schaffen, die nach Ansicht Russlands keinen Erfolg gebracht hatten.

Bekannt wurde auch der Einsatz der berüchtigten Wagner-Gruppe, einer privaten Militärfirma, die dem Kreml nahesteht. Deren Aktivitäten wurden vor allem im Zusammenhang mit dem Vorfall in Deir ez-Zor bekannt: 2018 stießen die Truppen von Wagner in eine demilitarisierte Zone vor, woraufhin die USA massive Luftschläge gegen die Angreifer flogen. Mehr als 300 russische Staatsbürger starben. Doch der Kreml dementierte jegliche Verwicklung. Der Einsatz Wagners in Syrien bleibt weiterhin im Dunkeln, was mit hoher Wahrscheinlichkeit gewollt ist. Auch in Libyen ist Wagner aktiv. Der Einsatz dieser Militärfirma ermöglicht Moskau im Zweifelsfall alles zu dementieren. 

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Russland vor allem aufgrund innerpolitischer Erwägungen in Syrien einschritt. Die Eindämmung des radikalen Islam war sein vordergründiges und verlautbartes Ziel. Außerdem konnte es wieder den Status einer Großmacht erlangen, was Putin innenpolitisch zu größerer Popularität verhalf. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass Putin seine innenpolitische Schwäche nur externalisieren wollte.

Russland hat seine Ziele in Syrien trotz seiner begrenzten Mittel erfolgreich absolviert. Russland wird generell als overachiever gesehen: Es wird stärker eingeschätzt als es in Wirklichkeit ist. Gleichzeitig hat man sehr überlegt Militär als staatliches Mittel eingesetzt. Insgesamt hatte Russland weniger Truppen in Syrien als die USA in Syrien und im Irak, konnte aber handfeste Ergebnisse erzielen.

Russland hat sich zu einem wichtigen Player in der MENA-Region entwickelt und, anders als die USA, hat es Verbindungen zu allen Akteuren der Region, deren Differenzen Putin geschickt für sich nutzt. Doch genau dies könnte ihm in Friedenszeiten Schwierigkeiten bereiten.

Seine wichtigsten Verbündeten im Astana-Prozess sind die Türkei und der Iran, doch nach einem endgültigen Frieden in Syrien werden die Differenzen zwischen diesen erst wirkmächtig werden. Während der Iran gemeinsam mit Russland Assad unterstützen, unterstützt die Türkei die Opposition. Zu Beginn der russischen Intervention wurde ein russischer Kampfbomber von türkischen Luftstreitkräften abgeschossen. Erdoğan entschuldigte sich daraufhin. Doch Ankara und Moskau kamen sich mehrmals in die Quere, so zuletzt auch in Idlib Anfang 2020. Aber durch geschickte Diplomatie glätteten sich die Wogen immer wieder.[16]

Mit der Türkei hat Russland politisch zwar sein Misstrauen gegenüber dem Westen gemeinsam und auch seinen Wunsch eine multipolare Weltordnung zu schaffen. Gleichzeitig aber sind Russland und die Türkei in mehreren Konflikten auf verfeindeten Seiten verwickelt, zuletzt am Kaukasus und in Libyen. Außerdem steht Russland der türkischen Abkehr vom laizistischen Prinzip und seine Förderung islamistischer Bewegungen, wie beispielsweise der Muslimbruderschaft, mit großen Misstrauen entgegen.[17] Doch Moskau verfolgt sowohl in Bezug auf Ankara als auch auf andere Akteure eine Politik der Kompartimentierung: Eine getrennte Bewertung von Konflikten.[18]

Auch mit dem Iran gibt es bereits jetzt Differenzen bezüglich der Nachkriegsordnung: Während Teheran auf eine Integration von paramilitärischen Milizen in die neuen staatlichen Strukturen in Syrien pocht, ist dies für Moskau keine Option. Außerdem hat Russland, wie bereits erwähnt, gute Kontakte nach Saudi-Arabien und auch zu den Golfstaaten, die als Feinde Irans gelten.

Die Unterstützung Chinas, auf die Russland bisher im UN-Sicherheitsrat setzen konnte, wird in Friedenszeiten ebenso anders ausfallen: China ist interessiert an niedrigen Ölpreisen, was Russland nicht ist. Außerdem hat Russland bei weitem nicht die finanziellen Kapazitäten Syrien wieder aufzubauen. Doch Europa und die USA werden dafür kaum aufkommen wollen.

Die offene Frage ist, wie sich Europa zu diesen Geschehnissen positionieren soll, befindet sich die MENA-Region doch in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Frage tritt verstärkt in den Vordergrund seitdem die USA nicht mehr als Ordnungsmacht in dieser Region gelten will. Doch dies lässt sich noch nicht vollends sagen, da mit der Biden Administration möglicherweise wieder eine neue Richtung eingeschlagen wird.

Zweifellos muss Europa wieder vermehrt mit Russland zusammenarbeiten. Auch wenn man den Wiederaufbau Syriens nicht vollständig finanzieren will, ist dies doch ein unausweichlicher Schritt dieser Region wieder zu Stabilität zu verhelfen. Dies sollte zweifellos im Interesse Europas liegen. Inwieweit die Hoffnung Russlands erfüllt wird, dass die russische Wirtschaft davon profitieren wird, ist noch abzuwarten. Klar ist aber: Russland ist gekommen, um zu bleiben. Als Lavrov, der derzeitige Außenminister der Russischen Föderation, 2016 gefragt wurde, welche Exit-Strategy Russland in Syrien habe, antwortete er, es gebe keine.[19]

Um auf die anfangs gestellte Frage zurückzukehren, ob Russland eine größere Vision für die MENA-Region verfolgt oder aus reinem Opportunismus handelte, ist die Antwort eine Absage an beide Sichtweisen. Vielmehr ist es ein geschickter Pragmatismus, der Moskau in seinem Handeln leitet: Auch wenn Putin Syrien zu Beginn instrumentalisierte, um wieder auf die internationale Bühne zurückzukehren, entwickelte sich über die letzten Jahre ein genuines Interesse an dieser Region. Russland hat mit dem syrischen Machthaber einen Vertrag abgeschlossen, der Moskau die Nutzung von Tartus für die nächsten 49 Jahre sichert. Gleichzeitig steigen Russlands Waffenexporte weiter an.

Russland verfolgt keine ideologischen Ziele, wie zu Sowjetzeiten und somit auch keine Grand Strategy. Vielmehr ist Moskau darauf aus eine Regionalisierung von Konfliktlösungen generell zu erreichen und damit der Realität der multipolaren Ordnung Rechnung zu tragen. Die Mechanismen, die zur Lösung des Konflikts in Syrien eingesetzt werden, werden die Lösung interner Konflikte im 21. Jahrhundert bestimmen. Russlands Handeln ist dabei nicht opportun, sondern pragmatisch.


Terlan Djavadova arbeitete während ihres Studiums als Assistentin am Institut für Orientalistik. Bisher erlangte sie einen Abschluss in Slawistik (BA) und Orientalistik (MA). Zurzeit arbeitet sie an ihrer Masterarbeit zum Thema russische private Militärfirmen im Nahen Osten. Die Ansichten, die in diesem Artikel vorgestellt werden, entsprechen einzig den Ansichten der Verfasserin.


[1] Andrei P. Tsygankov, Hrsg., Routledge Handbook on Russian Foreign Policy (New York: Routledge, 2018): 295.

[2] Roger E. Kanet, Hrsg., Routledge Handbook of Russian Security (Milton: Routledge, 2019): 294.

[3] Rolland Dannreuther, „Understanding Russia’s return to the Middle East“, International Politics 56 (2019): 726–42: 729.

[4] Nikolay Kozhanov, „From Russia’s Military Deployment in Syria to the Astana Process“, in The War for Syria: Regional and International Dimensions of the Syrian Uprising, hg. von Raymond Hinnebusch und Adham Saouli, (Abingdon, Oxon; New York, NY: 2020): 245.

[5] Idem.

[6] Chiara Lovotti u. a., Hrsg., Russia in the Middle East and North Africa: Continuity and Change (London: Routledge, 2020): 37. https://doi.org/10.4324/9780429286230

[7] David Maher und Moritz Pieper, „Russian Intervention in Syria: Exploring the Nexus between Regime Consolidation and Energy Transnationalisation“, Political Studies, 2020, 1–21, https://doi.org/10.1177/0032321720934637: 4.

[8] Richard Sakwa, „Wie Moskau die Welt sieht“, Le Monde Diplomatique, 10. Oktober 2019, https://monde-diplomatique.de/artikel/!5630916.

[9] Tatiana Romanova, „Russia’s Neorevisionist Challenge to the Liberal International Order“, The International Spectator 53 (1), ( 2018): 76–91, https://doi.org/10.1080/03932729.2018.1406761.

[10] Alekseaei Mikhaaeilovich Vasilev, Russia’s Middle East Policy: From Lenin to Putin, Durham Modern Middle East and Islamic World; 46 (London; New York: Routledge, 2018): 445.

[11] Tsygankov, Routledge Handbook on Russian Foreign Policy: 301.

[12] Lovotti u. a., Russia in the Middle East and North Africa: 22.

[13] Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, Germany Trade and Invest, und Deutsch-Russische Außenhandelskammer, „Russland in Zahlen. Aktuelle Wirtschaftsdaten für die Russische Förderation“, (2020), https://germania.diplo.de/blob/1257556/9f429cb9d04f0a6547083f572542cb58/2020-fruehjahr-data.pdf: 6.

[14] Lisa Watanabe, „Manöver von China und Russland im Nahen Osten“, CSS Analysen zur Sicherheitspolitik 271 (2020): 1–4: 2.

[15] Kozhanov, „From Russia’s Military Deployment in Syria to the Astana Process“: 252.

[16] Ekaterina Stepanova, „Russia’s Foreign and Security Policy in the Middle East: Entering the 2020s“, IAI Istituto Affari Internazionali 20, Nr. 16 (2020): 1–26: 9.

[17] Stepanova: 7.

[18] Igor Delanoë, „Erdoğans Drohnen, Putins Raketen“, Le Monde Diplomatique, 10. Dezember 2020, https://monde-diplomatique.de/artikel/!5731775.

[19] Kanet, Routledge Handbook of Russian Security: 406.

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