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Optionen nuklearer Strategie in komplexen globalen Strukturen

Abstract: In einer komplexen globalen Struktur, durchzogen von Bündnissystemen, Rivalitäten und Krisengebieten, müssen auch nukleare Strategien angepasst und überarbeitet werden. Hierzu gehört die Frage, wie stabil Allianzen im Angesicht des Ernstfalls sind. Zur Klärung wird ein klassisches nukleares Abschreckungsmodell verwendet und mit militärökonomischen Modellen und spieltheoretischen Überlegungen verknüpft. Die Ergebnisse werden einer szenariobasierten Analyse gegenübergestellt.

Problemstellung: Wird eine nukleare Allianz im Ernstfall zerbrechen und was muss zur Stabilisierung unternommen werden?

Bottom-line-up-front: Der Begriff des nuklearen Zweitschlags wird of mit Vergeltung gleichgesetzt. Das ist aber in komplexen Lagen nicht automatisch so. Er kann auch als militärische Unterstützung für einen Verbündeten durchgeführt werden. Dies muss jedoch situativ erfolgen. Es wird daher von Gegenschlags-Automatismen dringend abgeraten.

Was nun?: Komplexe globale Strukturen steigern die Anforderungen an die Nuklearstrategie extrem. So muss der Begriff „Zweitschlag“ von seiner inhaltlichen Festlegung auf pure Vergeltungsmaßnahmen befreit werden. Des Weiteren scheint eine zu enge Bindung an eine Allianz nicht im streng rationalen Interesse eines Landes zu liegen. Die Analyse der Triell-Situation bestätigt, dass Menschen im Angesicht der Anarchie zu Zusammenschlüssen neigen. Es entsteht allerdings eine gefährliche Zwischenphase, in der die hier verwendeten Kalküle keine Aussagen ermöglichen. Leicht können hier Konflikte durch Kleinigkeiten oder durch Missverständnisse ausgelöst werden.

Nukleare Abschreckung?

Source: shutterstock.com/Allexxandar

Der Dualismus der Kalten Krieges

Aus dem Dualismus der beiden Atommächte USA und Sowjetunion während des Kalten Krieges hat sich eine komplexe Gesamtsituation entwickelt, die in Abbildung 1 nur äußerst verkürzt wiedergegeben werden kann.

Abbildung 1: Beziehungen zwischen den Atommächten (grob).

Abbildung 1: Beziehungen zwischen den Atommächten (grob); Quelle: Autor

Man geht inzwischen von neun Atommächten aus, die in komplexe, ineinandergreifende Bündnisstrukturen eingebettet sind. Hier steht natürlich außer Frage, dass jedes Land die vollständige Kontrolle über sein nukleares Arsenal hat. Das war jedoch zu Beginn des Atomzeitalters anders. So forderten die Vereinigten Staaten in der ersten nuklearen Allianz mit Frankreich und Großbritannien die zentrale Kontrolle über das gesamte Arsenal, was aber von den europäischen Verbündeten abgelehnt wurde.[1]

Man geht inzwischen von neun Atommächten aus, die in komplexe, ineinandergreifende Bündnisstrukturen eingebettet sind.

Mithin stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die aktuelle Situation auf die nukleare Abschreckung hat.[2] Offensichtlich ist es immer wertvoll Verbündete zu haben, insbesondere dann, wenn die Partner die gleichen Wertvorstellungen teilen. Hier schließt sich die Frage an, ob solche Bündnisse im Angesicht des Ernstfalls, also eines nuklearen Angriffs auf die staatliche Gemeinschaft, stabil bleiben oder ob sie genau im kritischen Moment zerfallen? Oder ist es doch nicht immer wertvoll Verbündete zu haben? Zum Beispiel dann nicht, wenn sie einen durch ihr Verhalten in große Schwierigkeiten bringen?

Zur Klärung dieses Fragenkomplexes wird zunächst wird das System der nuklearen Abschreckung, wie es jahrzehntelang zwischen den USA und der Sowjetunion bestand, abstrakt beschrieben, wobei der Systematik von Herman Kahn gefolgt wird.[3] Diese wird kurz erklärt und mit den militärökonomischen Überlegungen von Todd Sandler und Keith Hartley verknüpft.[4] Dieses Modell wird schließlich auf die Situation „ein Land vs. eine Allianz aus zwei Ländern“ ausgeweitet und es werden verschiedene Fälle analysiert. Die Ergebnisse sollen plausibilisiert werden durch reale und hypothetische Konfliktszenarien. Dies ist sicher kein beweisfähiges Verfahren; es ist aber durchaus geeignet ein Modell mit der Wirklichkeit zu vergleichen.

Multistabiles Nukleargleichgewicht

Wesentlich für die folgende Betrachtung ist der Begriff des multistabilen Nukleargleichgewichts, auch bekannt als multistabiles Gleichgewicht („multistable deterrence“) nach Herman Kahn.[5] Kahn konstatiert ein multistabiles Gleichgewicht, wenn der nuklearen Erstschlagskapazität eines Landes eine entsprechende Zweitschlagskapazität eines gegnerischen Landes gegenübersteht. Im Falle eines Angriffs (Erstschlag) würde dann ein Gegenschlag (Zweitschlag) erfolgen. Ein Angreifer würde dann zumindest extremen Schaden hinnehmen müssen, wäre also ex-ante wirksam abgeschreckt. Diese Einteilung ist sehr vereinfachend, erfüllt aber den Zweck dieser Analyse.[6] Erst- und Zweitschlagskapazität können hierbei nicht scharf voneinander abgegrenzt werden. So gelten U-Boote mit ballistischen Raketen als Zweitschlagswaffe. Früher galten Intercontinental Ballistic Missiles (ICBM) in besonders gehärteten Silos als Zweitschlagswaffe, obgleich man mit beiden auch einen Ertschlag durchführen könnte. Zur Zweitschlagskapazität zählt aber auch die militärische Fähigkeit auf anfliegende Raketen rechtzeitig mit dem Start der eigenen Raketen oder dem Aufsteigen nuklearer Bomber zu reagieren („Launch on Warning“). Bei Erst- und Zweitschlagskapazität handelt es sich also um komplexe Begriffsbildungen, die sich nicht in jedem Falle auf bestimmte Waffensysteme reduzieren lassen.

Im Falle eines Angriffs (Erstschlag) würde dann ein Gegenschlag (Zweitschlag) erfolgen. Ein Angreifer würde dann zumindest extremen Schaden hinnehmen müssen, wäre also ex-ante wirksam abgeschreckt.

Abbildung 2: Multistabiles Gleichgewicht; Angriff von Land A auf Land B mit entsprechenden Konsequenzen.

Abbildung 2: Multistabiles Gleichgewicht; Angriff von Land A auf Land B mit entsprechenden Konsequenzen; Quelle: Autor

Ein multistabiles Gleichgewicht, in dem es, rationales Verhalten der Beteiligten vorausgesetzt, keine Angriffe geben sollte, da sie scheitern würden führt somit, bei perfekter beiderseitiger Rationalität zum Ausbleiben eines Angriffes durch gegenseitige Abschreckung. Alternativ kann Land A seine Erstschlagskapazität ausschließlich gegen die Zweitschlagskapazität von Land B richten, um die Möglichkeit der Gegenwehr auszuschalten („Counterforce“) (1). Andere Angriffsziele kommen zunächst nicht in Frage, da die Verschonung der Zweitschlagskapazität immer einen umso heftigeren Gegenschlag zu Folge hätte.

Land B verfügt jedoch über gut ausgebaute Zweitschlagskapazitäten und kann einen Gegenschlag gegen Land A führen (2). In der Abbildung bleibt das genaue Ziel des Gegenschlags unbestimmt. Nach dem Prinzip der massiven Vergeltung („Massive Retaliation“) hat der Gegenschlag „Countervalue“ zu erfolgen, also sich gegen Industrieanlagen und Zivilbevölkerung zu richten, um dem Angreifer inakzeptablen Schaden zuzufügen. Auch das Modell von Sandler und Hartley geht von dieser Annahme aus. Dies festzulegen scheint jedoch eine Engführung zu sein, kommen doch durchaus andere Alternativen in Frage. Sollte sich zum Beispiel Land B im Konflikt als überlegen herausstellen, wäre die Ausschaltung sämtlicher Nuklearkapazitäten von Land A durchaus empfehlenswert. Oder ein Angriff auf konventionelle militärische Ziele, um Land A auch die Möglichkeit zur konventionellen Kriegsführung im Nachgang des nuklearen Schlagabtauschs zu nehmen. Weitere Alternativen wird diese Analyse aufzeigen.

Nach dem Prinzip der massiven Vergeltung („Massive Retaliation“) hat der Gegenschlag „Countervalue“ zu erfolgen, also sich gegen Industrieanlagen und Zivilbevölkerung zu richten, um dem Angreifer inakzeptablen Schaden zuzufügen.

Das entsprechende militärökonomische Modell stellt sich wie folgt dar[7]. Hierbei ist Mi der Bestand an Raketen des Landes i und fi die Rate, mit der eine Rakete eine gegnerische zerstören kann. Also ist Mi*fi die Anzahl der Raketen, die durch das Land i zerstört werden können. Ci ist die Schadensgrenze, ab der das Land i einen Schaden als inakzeptabel ansieht[8]. Ci / μj ist die Anzahl der Raketen, die j benötigt, um diesen Schaden i zuzufügen.

Daraus ergeben sich die Abschreckungsbedingungen:

Abschreckung kann verbal folgendermaßen beschrieben werden.

(2): B schreckt A ab, wenn B mehr Raketen hat als A zerstören kann und dann noch genug, um A inakzeptablen Schaden zuzufügen.

Nichteinhaltung der Abschreckungsbedingung heißt, dass das andere Land angriffsfähig ist. Betrachten wir ein Versagen der Abschreckung von B.

A kann B angreifen, wenn so viele Raketen von B zerstört werden können, dass B dem Land A keinen inakzeptablen Schaden mehr zufügen kann.

Im Zwei-Länder-Fall ist jede Kombination von Abschreckungs- und Angriffsfähigkeit möglich[9].

Abbildung 3: Kombinationen von Abschreckungs- und Angriffsfähigkeit im Zwei-Länder-Fall.

Abbildung 3: Kombinationen von Abschreckungs- und Angriffsfähigkeit im Zwei-Länder-Fall; Quelle: Autor.

Neben dem multistabilen Gleichgewicht gibt es noch die Möglichkeit, dass ein Land dominiert oder dass kein Land abschreckungsfähig ist. Das heißt jedoch, dass beide Länder angriffsfähig sind. Somit bestünde der Anreiz zum Präventivschlag. Spieltheoretisch gesprochen: Es liegt ein Chicken Game vor.[10] So ist es zum Beispiel eine wesentliche Aufgabe von Abrüstungsverhandlungen zu vermeiden, dass man sich in eine solche Situation hineinverhandelt.

Allianzen im multistabilen Nukleargleichgewicht

Wir fügen der Analyse nun ein weiteres Land hinzu. Wir nehmen an, dass sich dann zwei Länder verbünden. Dies ist das normale Verhalten eines Drei-Parteien-Systems, in dem sich die Beteiligten misstrauisch gegenüberstehen.

Es bleibt die Frage, ob ein Bündnis bei großen Belastungen hält oder auseinanderbricht beziehungsweise wie die Bündnispartner sich verhalten müssen, um einem Zerfall entgegenzuwirken. Hierbei geht das verwendete Erklärungsmodell davon aus, dass Bündnisverpflichtungen erst einmal grundsätzlich erfüllt werden. Nukleare Bündnisse werden ja nicht mit jedem geschlossen. Man teilt Wertvorstellungen und hat ein gemeinsames Bild von der Bedrohungslage. Im Angesicht extremer Gefahr jedoch könnte man in Versuchung geraten das Bündnis aufzukündigen oder die versprochene Leistung nicht zu erbringen.

Es bleibt die Frage, ob ein Bündnis bei großen Belastungen hält oder auseinanderbricht beziehungsweise wie die Bündnispartner sich verhalten müssen, um einem Zerfall entgegenzuwirken.

Die blaue Seite[11] wird also durch eine Allianz aus zwei Ländern ersetzt, die Modellwelt bestehe nun aus Land A (rot) und einer Allianz aus den Ländern B und C (blau). Sie verfügen über kleinere Erst- und Zweitschlagskapazitäten. Diese reichen in der Summe aber durchaus, um mit Land A in ein multistabiles Nukleargleichgewicht zu kommen.

Abbildung 4: Multistabiles Gleichgewicht, zwei Länder bilden eine Allianz.

Abbildung 4: Multistabiles Gleichgewicht, zwei Länder bilden eine Allianz; Quelle: Autor.

Das hat große Ähnlichkeit mit den Ungleichungen (1) und (2) und bedeutet auch das selbe. Tatsächlich fällt diese Situation dem Zwei-Länder-Fall gleich, wenn die Allianz wie ein Land handelt oder wie ein Land behandelt wird. Wenn sich B und C zu einem gemeinsamen Erstschlag gegen A verabreden, liegt also die oben angegebene Analyse des Zwei-Länder-Falles vor. Desgleichen, wenn A beide Länder der Allianz gleichzeitig angreift.

Deutliche Unterscheide ergeben sich jedoch in den folgenden zwei Szenarien. Diese Unterschiede rechtfertigen eine gesonderte Analyse und begründen eine deutliche Unterscheidung zum Zwei-Länder-Fall.

Angriff der roten Seite auf ein Land der Allianz

Sollte A sich entschließen, einen Erstschlag nur gegen Land C zu führen, geht es davon aus, dass Land B im Angesicht des Ernstfalles seinen Bündnisverpflichtungen nicht nachkommt. So im Falle eines schnellen Sieges gegen C (Fall Rot1).

Abbildung 5: Angriff auf ein Land der Allianz.

Abbildung 5: Angriff auf ein Land der Allianz; Quelle: Autor.

Die Abschreckungsbedingungen (4) und (5) werden nun zu:

Hierbei wird angenommen, dass der noch vorhandene Raketenbestand von A ausreicht, um die Abschreckungsbedingung zu erfüllen, aber B, jetzt auf sich allein gestellt, nicht mehr in der Lage ist, A abzuschrecken. Hier kann B in der Tat nicht geraten werden, A anzugreifen, Bündnisverpflichtungen hin oder her. Land A hat dann mit der Strategie „One by one“ den Sieg errungen.

Angenommen aber Land C wäre durchaus in der in der Lage zu reagieren. Wie sollte es sich entscheiden? Ein Gegenschlag sollte sich gegen die Zweitschlagkapazität von Land A richten, also technisch gesprochen, ein „Erstschlag“ gegen Land A sein (Fall Rot2, (2)). Dies würde Land B in eine sehr vorteilhafte Position bringen, da ihm Land A nun mit deutlich reduzierter Zweitschlagkapazität gegenübersteht (Fall Rot2, (3)), wobei das genaue Ziel des Angriffs von B auf A hier unbestimmt bleibt, da eventuell militärische Ziele angegriffen werden müssen oder man sich für nukleare Vergeltung entscheidet. Trotz des Schadens, den Land C erlitten hat, könnte die Allianz dann noch einen militärischen Erfolg verbuchen. An dieser Stelle kommt das oben gesagte zum Tragen: Bündnisverpflichtungen werden tendenziell gehalten, sofern nicht extreme Gefahren dagegen sprechen.

Bündnisverpflichtungen werden tendenziell gehalten, sofern nicht extreme Gefahren dagegen sprechen.

Man erkennt, dass ein Zweitschlag nicht unbedingt ein Vergeltungsschlag „countervalue“ sein muss, der sich gegen Zivilisten und Industrieanlagen richtet. Es kann sich durchaus ein Zweitschlag „counterforce“ empfehlen. Zum Abgleich sollen diese Überlegungen dem folgenden hypothetischen Szenario gegenübergestellt werden. In Jahre 1975 unternimmt die Sowjetunion einen nuklearen Überraschungsangriff auf amerikanisches Kernland. Wie soll nun der amerikanische Gegenschlag aussehen? Um die europäischen Verbündeten zu motivieren ihren NATO-Verpflichtungen nachzukommen, sollte sich der Gegenschlag auf militärische Ziele richten, insbesondere auf sowjetische Zweitschlagskapazität. Die Europäer, bewusst der Tatsache, dass sie der Sowjetunion ausgeliefert waren, wenn die USA ausfällt, wären motiviert gewesen, die Sowjetunion anzugreifen. Insbesondere nach guter „Vorarbeit“ durch die USA, wenn die Zweitschlagfähigkeit oder die konventionelle Bewaffnung der Sowjetunion durch den amerikanischen Gegenschlag stark geschädigt worden wäre. Am Rande bemerkt: Zu dieser Zeit wäre es vielleicht sogar möglich gewesen, dass China in den Konflikt eingestiegen wäre, und zwar als Gegner der Sowjetunion.

Obschon durchaus diskutabel, ist dieses hypothetische Szenario in der Lage, den oben stehenden Überlegungen Geltung zu verschaffen. Es zeigt natürlich auch, dass die Mitglieder der Allianz im Ernstfall nicht einfach auf den Knopf drücken können, um dann das Beste zu hoffen. Stattdessen stehen, um im Beispiel zu bleiben, mehrere Knöpfe zur Verfügung, von denen jetzt – und die Zeit ist knapp – einer ausgewählt werden muss. Die Analyse zeigt klar: wenn Land C in großer Not die falsche Strategie wählt, hat das gesamte Verteidigungssystem der Allianz versagt.

Kommen wir nun zu einem weiteren Beispiel, extrem unbeliebt aber leider nicht selten: Alleingänge eines Partners.

Angriff eines einzelnen alliierten Staates auf die rote Seite ohne Wissen des Partners

In diesem Szenario entschließt sich Land C einen Erstschlag gegen Land A zu führen, ohne Land B im Vorfeld darüber zu informieren. Sollte B ohne weitere Komplikationen ebenfalls den Kampf gegen A aufnehmen, liegt der Zwei-Länder-Fall vor (Fall Blau1).

Abbildung 6: Alleingang eines Landes der Allianz, Einbezug von Land B.

Abbildung 6: Alleingang eines Landes der Allianz, Einbezug von Land B; Quelle: Autor.

Auch im Falle der Passivität von Land B könnte sich Land A entschließen, den Gegenschlag, der ja gegen C läuft, auch auf Land B auszuweiten (Fall Blau2). Hier scheint die Theorie vorzuspielen, dass dieser Schritt undurchdacht, gar verbrecherisch wäre. Dafür können aber durchaus Gründe vorliegen. So drohte US-Präsident Kennedy während der Kuba-Krise im Jahre 1962 Vergeltungsschläge gegen sowjetisches Territorium an[12], auch wenn ein Erstschlag von Kuba aus erfolgte, also wie im Fall Blau2.

Der Fall Blau3 beschreibt die Situation, dass Land B passiv bleibt. Schließlich gibt kein Bündnisvertrag das bedingungslose Folgen eines unvermuteten Angriffs eines Partners her. Allerdings muss B den Fall Blau2 befürchten, A befürchtet Blau1, wäre also in Versuchung, Blau2 auszulösen. Idealerweise schafft es Land B also, Land A von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen. Wenn nun A nicht mehr den Fall Blau1 befürchten muss, kann es sich auf die Verteidigung gegen C konzentrieren. Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, dass man permanente Kommunikationskanäle benötigt, die auch im Krisenfall funktionieren.

Abbildung 7: Alleingang eines Landes der Allianz, B bleibt erfolgreich passiv.

Abbildung 7: Alleingang eines Landes der Allianz, B bleibt erfolgreich passiv; Quelle: Autor.

Nun steht B zwar ohne Bündnispartner aber in alter Stärke den geschwächten Ländern A und C gegenüber. Eine sicherlich vorteilhafte Situation, die, wie wir gesehen haben, jedoch keinesfalls garantiert ist.

Auch hier soll die Analyse noch durch ein hypothetisches Krisenszenario untermauert werden. So wird das indisch-chinesische Verhältnis weltweit mit Sorge betrachtet. Besonders aus der Sicht Pakistans (Land B), einem Verbündeten Chinas (Land C), muss es zur Sorge Anlass bieten. Sollte es plötzlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen China und Indien (Land A) kommen, muss es damit rechnen, in den Krieg hineingezogen zu werden. Indien könnte Blau1 befürchten und deshalb Blau2 auslösen, also Pakistan angreifen. Es ist aber auch möglich, dass sich Indien im Kriegsverlauf zu einem Vergeltungsangriff „countervalue“ gegen die chinesischen Investitionen auf pakistanischem Gebiet entschließt, eine Variante von Blau2.

Hier könnte sich Pakistan entschließen Indien präventiv anzugreifen, also doch Blau1 auszulösen. Das Ziel von Pakistan sollte natürlich Fall Blau3 sein, also den Konflikt unbeschadet zu überstehen.

Sollte es plötzlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen China und Indien (Land A) kommen, muss es damit rechnen, in den Krieg hineingezogen zu werden. Indien könnte Blau1 befürchten und deshalb Blau2 auslösen, also Pakistan angreifen.

Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass solche Entscheidungen unter härtesten psychologischen Bedingungen und extremen Zeitdruck erfolgen müssen – und es kann noch komplizierter werden.

Triell

Schließlich soll der Fall ausgeleuchtet werden, in dem sich drei Kontrahenten jeweils feindlich gegenüberstehen. Wir bezeichnen den Fall als Triell.

Abbildung 8: Triell. Eine solche Situation existiert momentan nicht, wie ein Vergleich mit Abbildung 1 zeigt.

Abbildung 8: Triell. Eine solche Situation existiert momentan nicht, wie ein Vergleich mit Abbildung 1 zeigt; Quelle: Autor.

Ein Abschreckungsbegriff ist in einem solchen Fall nur schwer zu fassen. Land i könnte beide Kontrahenten abschrecken, wenn es einen genügenden Raketenbestand hat. Aus (1) folgt:

Wir können Land A herausgreifen. Die Abschreckungs-Ungleichung entspricht dann (4). Man geht trotz Triell-Szenario vom schlimmsten Fall aus, in dem B und C verbündet sind.

Die Angriffsfähigkeit ergibt sich dann aus der Negation von (5).

Dann ist Land A doppelt angriffsfähig, das heißt, auch B und C gemeinsam können es nicht abschrecken. Aus fehlender Abschreckungsfähigkeit kann hier jedoch nicht auf Angriffsfähigkeit der Gegenseite geschlossen werden. Das funktioniert nur bei zwei Parteien. Diese Mehrfachfähigkeiten sind jedoch selten anstrebenswert, da extrem große Bestände aufgebaut werden müssen. Bei 4, 5 oder mehr Kontrahenten wird vollständige Abschreckungs- und Angriffsfähigkeit zunehmend unerreichbarer.

Abbildung 9 zeigt die Fortentwicklung einer Triell-Situation. Wir gehen ohne Beschränkung der Allgemeinheit davon aus, dass A stärker ist als B und B stärker ist als C.

Abbildung 9: Fortentwicklung des Triells. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit sei A stärker als B und B stärker als C.

Abbildung 9: Fortentwicklung des Triells. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit sei A stärker als B und B stärker als C; Quelle: Autor.

Man erkennt, dass das Triell zur Instabilität neigt. Es besteht die Tendenz, dass sich zwei der Kontrahenten gegen den Dritten verbünden. Dies hatten wir weiter oben bei der Einführung der Allianz-Struktur einfach vorausgesetzt. Eine solche Situation existiert zwischen den Atommächten aktuell nicht, es hat sie aber gegeben, und zwar nach dem Zusammenbruch des sino-sowjetischen Blocks. Bereits Anfang der 60er-Jahre wurden hier erste Probleme bei den Beziehungen beider Länder deutlich. 1969 kam es dann zu Kampfhandlungen am Ussuri. Erst Anfang der 80er-Jahre normalisierte sich die Lage.[13] In dieser Zeitspanne lag der Vietnamkrieg, bei dem Nordvietnam von der Sowjetunion und China unterstützt wurde, daher die Rivalität zwischen den USA und China. Spätestens ab 1969 bestand also eine Triell-Situation.

Man erkennt, dass das Triell zur Instabilität neigt. Es besteht die Tendenz, dass sich zwei der Kontrahenten gegen den Dritten verbünden.

Diese Situation entspricht Fall 2 in Abbildung 9. China war damals in der Tat der Schwächere, die USA und die Sowjetunion verfügten über Abschreckungsfähigkeit gegeneinander, mithin zumindest näherungsweise über doppelte Abschreckungsfähigkeit. Die USA, insbesondere US-Präsident Nixon, wurden aktiv. Nach diplomatischen Vorbereitungen kam es im Jahre 1972 zu einem Staatsbesuch in China, der durchaus positiv verlief – und dies im Angesicht des Vietnamkriegs, bei dem China den Gegner Amerikas, Nordvietnam, unterstützte. Es wurde zwar kein Militärbündnis geschlossen, aber die Lage entspannte sich deutlich. Wann die Triell-Situation genau endete, muss dahinstehen. In den 80er-Jahren erfolgte Chinas Öffnung für den Weltmarkt unter Deng Xiaoping. Spätestens dann endete der Konflikt zwischen den USA und China. Zumindest vorläufig, wie wir heute wissen. Man erkennt die Bestrebungen zum Auflösen des Triells zugunsten einer irgendwie gearteten Zwei-Parteien-Situation. Eine Komponente ist sicher, dass eine Triell-Situation unter Atommächten langfristig einfach unerträglich ist.

Fazit

Komplexe globale Strukturen steigern die Anforderungen an die Nuklearstrategie extrem. So muss der Begriff „Zweitschlag“ von seiner inhaltlichen Festlegung auf pure Vergeltungsmaßnahmen befreit werden. Wie wir im Fall Rot2 gesehen haben, sollte Land C in der Tat von solchen Maßnahmen absehen und zur Unterstützung von Land B militärische Ziele angreifen. Ob Land B nun „counterforce“ oder „countervalue“ zurückschlägt kann allgemein gar nicht gesagt werden. Man muss also in kürzester Zeit unter sehr großen Bedrohungen hochflexibel reagieren. Ein irgendwie gearteter Gegenschlags-Automatismus ist keinesfalls zu empfehlen, würde dies doch einer Weltvernichtungsmaschine, von Herman Kahn erdacht[14] und von Stanley Kubrick genial filmisch umgesetzt[15], entsprechen.

Komplexe globale Strukturen steigern die Anforderungen an die Nuklearstrategie extrem. So muss der Begriff „Zweitschlag“ von seiner inhaltlichen Festlegung auf pure Vergeltungsmaßnahmen befreit werden.

Des Weiteren scheint eine zu enge Bindung an eine Allianz nicht im streng rationalen Interesse eines Landes zu liegen. So wird im Fall Rot1 der Zweitschlag ganz einfach entfallen. Land B wird ihn wahrscheinlich nicht führen, wenn der Krieg bereits verloren ist. Ähnliches gilt für die Fälle Blau. Hier muss Land B ja vermeiden, durch Alleingänge von Land C in große Schwierigkeiten zu kommen. Auch da wäre ein allianzweiter Gegenschlags-Automatismus fatal.

Die Analyse der Triell-Situation bestätigt, dass Menschen im Angesicht der Anarchie zu Zusammenschlüssen neigen. Es entsteht allerdings eine gefährliche Zwischenphase, in der die hier verwendeten Kalküle keine Aussagen ermöglichen. Leicht können hier Konflikte durch Kleinigkeiten oder durch Missverständnisse ausgelöst werden. Diese Problematik sollte durchaus im Auge behalten werden. Hierbei können theoretische Kalküle ein durchaus nützliches Hilfsmittel darstellen. Sie sind jedoch keinesfalls als alleiniges Analyseinstrument ausreichend. Theoretische Ergebnisse sind vielmehr realen oder realitätsbasierten Szenarien gegenüberzustellen. Die Kombination beider Methoden ist es, die deutlichen Erkenntnisgewinn verspricht.


Harden Ortner; 1983-1989: Studium der Elektrotechnik an der Technischen Universität Berlin; 1989- 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin im Bereich der Rechnertechnologie; Seit 1995: Berufliche Tätigkeit im Bankwesen in den Bereichen: Informationstechnologie, Innenrevision, Risikocontrolling; Seit 2004: Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Politik, Wirtschaft und Geschichte. Bei den in diesem Artikel vertretenen Ansichten handelt es sich um die des Autors.


[1] Henry Kissinger, The Troubled Partnership, A Re-appraisal of the Atlantic Alliance (Greenwood Press, 1982 (1965)), 120-132.

[2] Erik Durschmied, The MAD Syndrome, ÖMZ Online, 2018, https://www.oemz-online.at/display/ZLIintranet/Online+Only+en?preview=%2F50627908%2F50629289%2F201802_Durschmied.pdf . Erik Durschmied entwickelt hypothetische nukleare Szenarien mit hoher Komplexität, eine Motivation für die hier vorliegende theoretische Analyse.

[3] Herman Kahn, On Thermonuclear War (Princeton University Press, 1960).

[4] Todd Sandler und Keith Hartley, The Economics of Defense (Cambridge University Press, 1995).

[5] Herman Kahn, On Thermonuclear War, 141.

[6] Herman Kahn unterscheidet Typ-1, Typ-2 und Typ-3-Abschreckung. Detail im ggstdl. Beitrag nicht abbildbar.

[7] Todd Sandler und Keith Hartley, The Economics of Defense, 93-112.

[8] Sandler und Hartley unterscheiden den kleinsten inakzeptablen Schaden und den größten noch akzeptablen Schaden. Wir setzen diese jedoch gleich.

[9] Sandler und Hartley weisen zu Recht darauf hin, dass sich bei kleineren Raketenbeständen ganz andere Stabilitätsbedingungen ergeben, die auch anders berechnet werden müssen. Höchst relevant für Abrüstungsverhandlungen, wir verfolgen dies an dieser Stelle jedoch nicht weiter.

[10] Zum Beispiel in: Seite 44 in Thomas Riechmann, Spieltheorie (Verlag Franz Vahlen, 2014).

[11] Wir folgen der Red-vs.-Blue-Systematik.

[12] Lawrence Freedman und Jeffrey Michaels, The Evolution of Nuclear Strategy, (Palgrave Macmillan, 2019), 314.

[13] Lawrence Freedman und Jeffrey Michaels, The Evolution of Nuclear Strategy, 391.

[14] Herman Kahn, On Thermonuclear War, 145.

[15] “Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb,” 1964, Columbia Pictures, mit Peter Sellers unter Anderem als Dr. Strangelove, https://en.wikipedia.org/wiki/Dr._Strangelove.

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